Nachdem der Grammatikunterricht in den letzten fünf Jahrzehnten anhaltende Diskussionen um seine Existenzberechtigung, seine konzeptuelle Methodik, seine curriculare Implementierung und seine Rolle für rezeptive wie produktive Sprachhandlungen durchlaufen hat, befindet sich die aktuelle sprachdidaktische Diskussion vermehrt in Überlegungen zur fachlichen Gegenstandsmodellierung grammatischer Lerninhalte und damit an der Nahtstelle zur Linguistik wieder (vgl. Granzow-Emden 2019, Noack 2022, Trotzke 2020, van Rijt 2020, Primus 2015 uvm.). Dabei spielen die linguistische Theoriebildung sowie ihre Didaktisierung eine wesentliche Rolle.
Dass die traditionelle schulgrammatische Modellierung in sich inkonsistent ist und moderne linguistische Ansätze außen vor lässt, ist im aktuellen sprachdidaktischen Diskurs unumstritten (vgl. Nilsson 2002, Elsner 2022). Hinzu kommt die durch die integrative Deutschdidaktik implementierte funktionale Anknüpfung grammatischer Lerninhalte an andere thematische Zusammenhänge, wodurch dem damit vermittelten Grammatikwissen eines verloren geht: der Systemcharakter. Dieses Systemwissen ist jedoch paradoxerweise im Selbstverständnis des Faches Deutsch die klare Zielsetzung – zumindest in der (curricularen) Theorie, jedoch seltener in der Schulbuchpraxis.
In der Sekundarstufe I wird zur Ermittlung von Satzgliedern als ausschließliches Instrument die Kasusfrage (Wer oder was?/Wen oder was?/Wem?/Wessen?) eingesetzt. Ohne systematische Vermittlung, was Satzglieder überhaupt sind und wie man sie mit Blick auf ihre Satzfunktion beschreiben kann, werden die Kasusfragen (sowie die Was für?-Frage bei Attributen) konsequent zur ausnahmslosen Ermittlung aller Satzglieder durchgezogen. Dieses Vorgehen arbeitet einem echten Systemverständnis entgegen und führt dazu, dass wesentliche Dimensionen und Phänomene im Sprachsystem falsch identifiziert oder vertauscht werden. Es wird beispielsweise zwangsläufig alles, was durch die Frage Wem? erfragt werden kann, für ein Dativobjekt gehalten, weil die grundlegenden Eigenschaften von Objekten und Nicht-Objekten im Vorfeld nicht erfasst werden.
- Klara spielt mit dem Ball.
Mit wem spielt Klara?
*[dem Ball] -> Dativobjekt
Die Benennung der Phrase [dem Ball] in (1) als Dativobjekt sorgt nicht einmal für Irritationen, weil für echte Irritationen ja ein Bewusstsein für die Natur von Objekten vorliegen müsste und zeigt die vollständige Abkopplung von explizitem Grammatikwissen.
Der Vortrag setzt sich zum Ziel, die schulgrammatische Satzgliedmodellierung anhand einer Schulbuchanalyse darzulegen und Schwachstellen im Sinne der o.g. Zielsetzungen aufzuzeigen. In einem weiteren Schritt wird ein Baustein eines Unterrichtsmodells in seinen Grundzügen vorgestellt, welches den Anspruch hat, Schüler dazu anzuregen über Sprache als System zu reflektieren und erfassen. Dabei wird der Mehrwert verschiedener linguistischer Konzepte bemüht, wie beispielsweise die semantischen Rollen, die c-Selektion verbaler Prädikate, Ereignissemantik und Rektionskonfigurationen.
Literatur
Granzow-Emden, Matthias. 2019. Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten. Tübingen: Narr.
Nilsson, Torsten (2002): Das Dilemma der deutschen Schulgrammatik. Dissertation im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. [o. V.].
Noack, Christina (2022): Grammatische Modellierung als Gemeinschaftsaufgabe für eine durchgängige und integrative Sprachbildung. In: Müller, Anja & Katharina Turgay (Hrsg.): Grammatische Modellierung als Grundlage für sprachdidaktische Vermittlung. Linguistische Berichte. Sonderheft 31. Hamburg: Buske Verlag. S. 117–127.
Primus, Beatrice. 2015. Semantische Rollen und Satzgliedanalyse im Grammatikunterricht. In: Mesch,
Trotzke, Andreas. 2020. Pädagogische Linguistik – jetzt! Formal linguistics and langauge education: New empirical perspectives. Dordrecht.
Van Rijt, Jimmy. 2020. Understanding grammar. The impact of linguistic metaconcepts on L1 grammar education. Doctoral dissertation. Radboud university.