Eine der schulischen aber auch dauerhaften Herausforderungen in der sprachlichen Bildung ist die Entwicklung von – sich gegenseitig stützenden – Schreib- und Lesekompetenzen. Die Inhaltliche Grundlage zur Vermittlung von Rechtschreibkompetenzen ist das Amtliche Regelwerk. Im Bereich der Zeichensetzung findet mit der am 3. Juli 2024 veröffentlichten Neufassung des Amtlichen Regelwerks[1] im Bereich der Zeichensetzung ein empirisch begründbarer Paradigmenwechsel statt (Bredel & Wöllstein 2024a, b).
Bislang waren die amtlichen Regeln für Interpunktionszeichen so formuliert, dass sie auf die Perspektive der Schreibenden zugeschnitten waren (bspw. Nebensätze grenzt man mit Komma ab; sind sie eingeschoben, so schließt man sie mit paarigem Komma ein. (in der Fassung von 2018)), während die rezeptive Perspektive (bspw. Das Komma zeigt Nebensätze an. (in der Fassung von 2024)) der Lesenden außen vor blieb.[2] Daraus ergab sich für die Praxis, dass die Schreibperspektive vor allem im gesteuerten Schriftspracherwerb verortet ist, die Leserperspektive im ungesteuerten Schriftspracherwerb. Die (implizite) Hoffnung war, dass sich die rezeptive Zeichensetzungskompetenz von selbst im ungesteuerten Schriftspracherwerb einstellt. Anders formuliert: durch Lesen, so die Annahme, könne sich die Funktion einzelner Zeichen in Gesamtsystem dem Leser intuitiv erschließen und auch für die Schreibproduktion nutzbar werden. Empirische Studien haben hingegen am Beispiel des Kommas gezeigt, dass die rezeptive Zeichensetzungskompetenz im ungesteuerten Schriftspracherwerb keineswegs von allen Lernenden erworben wird (Esslinger 2014, Esslinger & Noack 2020). Eine Möglichkeit zur Stützung der rezeptiven Kompetenz besteht folglich darin, die inhaltlichen Grundlagen der Zeichensetzung auf sie auszurichten, damit sie für den gesteuerten Schriftspracherwerb zugänglich wird.
Im Vortrag wird die zugrundeliegende Konzeption der Neufassung des Amtlichen Regelwerks vorgestellt, welche im Bereich der Zeichensetzung die rezeptive Perspektive für den gesteuerten Schriftspracherwerb einführt. Diskutiert werden Motivation und Mehrwert der neuen funktionalen Einordnung der Interpunktionszeichen in eine semasiologisch orientierte Systematik.
Zitierte Literatur:
Bredel Ursula & Angelika Wöllstein 2024a. Kapitel E Zeichensetzung (S. 105-156). In: Amtliches Regelwerk der deutschen Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis. (Hrsg. Geschäftsstelle des Rats für deutsche Rechtschreibung. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache.
Bredel, Ursula & Wöllstein, Angelika 2024b.Neue Konzepte und Zugänge zur Zeichensetzung im Amtlichen Regelwerk. In: Krome, Sabine & Mechthild Habermann & Henning Lobin, & Angelika Wöllstein (Hrsg.): Orthographie in Wissenschaft und Gesellschaft. Schriftsystem – Norm – Schreibgebrauch. Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2023. Berlin / Boston: de Gruyter. S. 63-80. →IDS-Publikationsserver
Esslinger, Gesine (2014): Rezeptive Interpunktionskompetenz. Eine empirische Untersuchung zur Verarbeitung syntaktischer Interpunktionszeichen beim Lesen.Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Esslinger, Gesine & Christina Noack (2020): Das Komma und seine Didaktik. SLLD-E, Band 1. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.
[1] Das vom Rat für deutsche Rechtschreibung aktualisierte Amtliche Regelwerk mit dem neuen Amtlichen Wörterverzeichnis ist seit dem 01.07.2024 verbindlich für Schule und Verwaltung. „Die zuständigen staatlichen Stellen Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol, der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens und des Fürstentums Liechtenstein haben den Vorschlägen des Rats zur Anpassung des Regelwerks bis Ende Juni 2024 zugestimmt und damit dessen Verbindlichkeit beschlossen. Die Umsetzung erfolgt mit Übergangsfristen, die von den staatlichen Stellen koordiniert werden.
[2] Das bis Sommer 2024 geltende Amtliche Regelwerk ist außerdem kasuistisch-onomasiologisch formuliert. Das bedeutet, dass die explizite Darstellung der Zeichenfunktion nicht im Vordergrund stand als vielmehr der Kontext, in dem ein Zeichen auftreten soll bzw. kann. Keineswegs sind Kontexte für Interpunktionszeichen eineindeutig.